.

Ordnung der Kommission für Anerkennungsleistungen
der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck

Vom 21. Januar 2022

KABl. S. 65, Nr. 33

Der Rat der Landeskirche hat gemäß § 11 der Gesetzesvertretenden Verordnung zum Schutz vor sexualisierter Gewalt die folgende Ordnung erlassen:
####

Präambel

Im Bewusstsein, dass Menschen im Raum der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie sexualisierte Gewalt durch Beschäftigte erlitten haben, übernimmt die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck Verantwortung für das Unrecht. Diese Verantwortung wird auch durch die Arbeit der Anerkennungsleistungskommission ausgedrückt, die frei von Weisungen, betroffenenorientiert und durch die Zuerkennung angemessener Leistungen an Betroffene sexualisierter Gewalt erlittenes Unrecht wahrnehmen und anerkennen soll.
#

§ 1
Rechtsgrundlagen der Kommission für Anerkennungsleistungen

( 1 ) Die Kommission für Anerkennungsleistungen der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck zur Prüfung von Leistungen an Betroffene sexualisierter Gewalt in Anerkennung erlittenen Unrechts (Anerkennungskommission) ist eine Einrichtung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.
( 2 ) Sie arbeitet eng mit der Anerkennungskommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zusammen. Beide sind gegenseitig Überprüfungsinstanz nach § 9 Absatz 3. Beide Kirchenleitungen sind sich einig, dass ein Zusammenschluss beider Kommissionen zu einer Kommission mit zwei Kammern eine mögliche Zukunftsoption ist.
#

§ 2
Grundsätze der Arbeit der Anerkennungskommission

Die Anerkennungskommission entscheidet über Anträge auf Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts. Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts sind Teil eines individuellen Anerkennungs- und Unterstützungssystems, mit dem die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck ihre Schuld und ihre institutionelle Verantwortung für die sexualisierte Gewalt anerkennt, die Menschen in ihren Einrichtungen erlitten haben. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck nimmt durch die Arbeit der Anerkennungskommission das Unrecht gegenüber den Betroffenen und ihre damalige Ohnmacht wahr, schenkt ihren Schilderungen Gehör und setzt sich mit dem individuellen Erleben Betroffener und auch ihrer heutigen Lebenssituation auseinander.
#

§ 3
Voraussetzungen einer Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts

( 1 ) Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts können Personen beantragen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, für die ein institutionelles Versagen einer kirchlichen Körperschaft der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck oder in einer Einrichtung von Verbänden, die sich dieser Ordnung angeschlossen haben (§ 12), (mit-)ursächlich war.
( 2 ) Ein institutionelles Versagen liegt in der Regel vor, wenn
  1. die sexualisierte Gewalt von Beschäftigten einer kirchlichen Institution in deren räumlichen Verantwortungsbereich verübt wurde, oder
  2. die sexualisierte Gewalt von Beschäftigten einer kirchlichen Institution außerhalb von deren räumlichen Verantwortungsbereich verübt wurde und sie im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses verübt wurde, welches im Rahmen der beruflichen Tätigkeit des/der Beschäftigten begründet wurde, oder
  3. die sexualisierte Gewalt von Ehrenamtlichen der kirchlichen Institution oder von einer der kirchlichen Institution anvertrauten Person verübt wurde und die kirchliche Institution
    • der Tat Vorschub geleistet oder sie begünstigt hat oder
    • keine angemessenen Maßnahmen getroffen hat, um die sexualisierte Gewalt zu verhindern oder ihre Auswirkungen zu verringern.
( 3 ) Eine Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts setzt voraus, dass die Darlegung des Sachverhalts gemäß Absätzen 1 und 2 plausibel ist. Die Prüfung aller Voraussetzungen obliegt der Anerkennungskommission.
( 4 ) In den in § 3 Absatz 2 genannten Fällen werden das institutionelle Versagen und seine Mitursächlichkeit für die sexualisierte Gewalt angenommen und müssen nicht durch die antragstellende Person bewiesen oder belegt werden. Eine Entkräftung obliegt stets der betreffenden Körperschaft.
( 5 ) Wenn eine Sachverhaltsdarstellung und Empfehlung der Clearingstelle im Rahmen des Ergänzenden Hilfesystems des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorliegt, kann diese als grundsätzliche Plausibilisierung herangezogen werden.
#

§ 4
Verfahren der Antragstellung

( 1 ) Anträge auf Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts werden von der Geschäftsstelle der Anerkennungskommission entgegengenommen. Betroffene können sich durch Dritte bei einer Antragstellung vertreten lassen. Die Geschäftsstelle der Anerkennungskommission begleitet und unterstützt die antragstellenden Personen auf Wunsch bei der Antragstellung und sorgt für eine Weiterleitung der Anträge an die Anerkennungskommission.
( 2 ) Die Anerkennungskommission leitet ihre Entscheidungen an die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck weiter, gibt sie der antragstellenden Person bekannt und lässt die Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts über ihre Geschäftsstelle zur Auszahlung anweisen.
#

§ 5
Grundsätze einer Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts

( 1 ) Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts sind freiwillige Leistungen, und auf eine Wirkung in der Zukunft ausgerichtet. Sie werden einmalig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht gezahlt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
( 2 ) Die Höhe der Leistung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art, der Dauer und den Folgewirkungen der erlittenen sexualisierten Gewalt.
#

§ 6
Verhältnis zu anderen Leistungen

( 1 ) Anerkennungsleistungen, die die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck auf Grund von Vorgaben der Geschäftsstelle des Fonds Sexueller Missbrauch aus dem Ergänzenden Hilfesystem des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gewährt hat, werden auf eine Leistung in Anerkennung erlittenen Unrechts nicht angerechnet.
( 2 ) Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck kann neben den Anerkennungsleistungen weitere Hilfen gewähren. Die Entscheidung über diese Unterstützungsleistungen liegt bei der Anerkennungskommission. Unterstützungsleistungen für Betroffene nach dieser Ordnung können insbesondere die Kosten einer Therapie bei therapeutischem Bedarf sein. Wenn eine Kostenübernahme von den Krankenkassen oder anderen Kostenträgern abgelehnt wird oder Eigenanteile umfasst, wobei auch die Beratung als Paar eingeschlossen ist, können bis zu 25 Sitzungen bis zu einem von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung festgelegten Stundensatz, einschließlich möglicher Fahrtkosten übernommen werden.
#

§ 7
Zusammensetzung der Anerkennungskommission

( 1 ) Die Anerkennungskommission besteht aus mindestens drei Mitgliedern, möglichst verschiedenen Geschlechts, die unterschiedliche berufliche und persönliche Erfahrungen in die Kommissionsarbeit einbringen sollen. Sie sollen Grundkenntnisse im Themenbereich sexualisierter Gewalt in Institutionen und im Umgang mit traumatisierten Menschen haben. Ein Mitglied soll über eine traumatherapeutische Qualifikation, die auf einer wissenschaftlichen Hochschulausbildung (Diplom/Master) beruht, verfügen. Alle müssen die Bereitschaft und Eignung mitbringen, den Auftrag der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (§ 2 Satz 3) zur Anerkennung individuellen Unrechts Betroffener zu erfüllen. Die Mitglieder dürfen nicht in einem kirchlichen oder diakonischen Dienst- oder Arbeitsverhältnis stehen.
( 2 ) Die Mitwirkung der Betroffenenvertretung an der Anerkennungskommission wird sichergestellt.
#

§ 8
Berufung der Mitglieder der Anerkennungskommission

( 1 ) Die Mitglieder der Anerkennungskommission werden durch den Rat der Landeskirche berufen. Sie sind unabhängig und in ihren Entscheidungen als Kommissionsmitglied nicht an Weisungen eines kirchenleitenden Organs oder einer anderen Stelle aus Kirche oder Diakonie gebunden. Ihre Amtszeit beträgt drei Jahre. Wiederberufungen sind möglich. Sie sind ehrenamtlich tätig und erhalten für ihre Tätigkeit eine Erstattung ihrer Auslagen und eine Aufwandsentschädigung entsprechend der gemäß § 1 Kirchengerichtsentschädigungsverordnung für Vorsitzende und Berichterstatter.
( 2 ) Die Kommission ist dem Rat der Landeskirche berichtspflichtig.
#

§ 9
Verfahren der Anerkennungskommission

( 1 ) Die Anerkennungskommission entscheidet nach Lage der Akten und mit Mehrheit ihrer Mitglieder. Zusätzlich soll sie der antragstellenden Person Gelegenheit geben, in einem nichtöffentlichen Gespräch ihr Anliegen vorzutragen und zu einem gegebenenfalls bereits vorliegenden Vorschlag der Kommission Stellung zu nehmen. Dabei kann sich die antragstellende Person durch Dritte begleiten oder vertreten lassen. Satz 1 gilt auch, wenn die Anerkennungskommission kein Gespräch durchführen kann, weil die betroffene Person dies nicht wünscht und alternativ auch keine dritte Person, die für sie spricht, benennt.
( 2 ) Die Anerkennungskommission kann relevante Akten und sonstige Unterlagen beiziehen und zu ihren Sitzungen Zeugen und fach- und arbeitsfeldkundige Personen hinzuziehen. Sie nehmen nicht an der Entscheidungsfindung teil. Bei Anwesenheit der antragstellenden Person ist deren Einwilligung erforderlich.
( 3 ) Betroffene können nach Bekanntgabe und Begründung der Entscheidung eine abweichende Meinung schriftlich oder mündlich über die Geschäftsstelle der Anerkennungskommission einbringen und damit eine Überprüfung der Entscheidung herbeiführen. Instanz hierfür ist die Anerkennungskommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
( 4 ) Entsprechendes gilt, wenn eine Entscheidung der Anerkennungskommission im Nachhinein im Gegensatz zu einer Entscheidung der Clearingstelle im Rahmen des Ergänzenden Hilfesystems des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend steht.
( 5 ) Die Anerkennungskommission kann bei Vorliegen wichtiger Gründe ein Verfahren wieder aufnehmen.
( 6 ) Geschilderte Taten sollen, falls möglich und noch nicht geschehen, durch staatliche Straf- und kirchliche Disziplinarverfahren sowie arbeitsrechtliche Verfahren geahndet werden. Die Anerkennungskommission soll mit Zustimmung der betroffenen Person zu diesem Zweck Taten an die Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck melden.
( 7 ) Die Verfahren der Anerkennungskommission unterliegen dem Gebot der Beschleunigung. Anträge sind in einem vertretbaren Zeitrahmen zu bearbeiten und zu entscheiden.
( 8 ) Die Anerkennungskommission kann weitere Regelungen zum Verfahren in einer eigenen Geschäftsordnung beschließen.
#

§ 10
Verpflichtung zur Verschwiegenheit

Die an der Anerkennungsleistung beteiligen Personen sind zur Verschwiegenheit über alle Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen in Ausübung ihrer Tätigkeit bekanntgeworden sind.
#

§ 11
Austausch, Dokumentation und Transparenz

( 1 ) Die Anerkennungskommission tauscht sich regelmäßig EKD-weit mit Mitgliedern der Anerkennungskommissionen anderer Landeskirchen aus.
( 2 ) Die Anerkennungskommission dokumentiert die von ihr bearbeiteten Fälle. Insbesondere hält sie in anonymisierter Form die Anzahl der Fälle, die Höhe der Anerkennungsleistungen, den jeweiligen Kontext (Diakonie/Landeskirche; Alter und Geschlecht der Betroffenen; Profession der für die Tat verantwortlichen Personen und deren Geschlecht sowie die Art der Gewalterfahrung) fest, in dem die betroffene Person Unrecht erfahren hat und leitet diese Informationen als Gesamtsummen jährlich auf Anfrage an die EKD weiter, die eine Gesamtdokumentation führt.
( 3 ) Die Ordnung der Anerkennungskommission der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck ist in geeigneter Art und Weise öffentlich zu machen.
#

§ 12
Vereinbarungen zur Behandlung von Fällen aus anderen Kontexten

( 1 ) Die Diakonie Hessen, Verbände der evangelischen Jugendarbeit und weitere Einrichtungen oder Organisationen können sich dieser Ordnung auf Basis einer schriftlichen Vereinbarung mit der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck anschließen.
( 2 ) Die sich anschließende Organisation erklärt im Rahmen der Vereinbarung ihre Akzeptanz der Entscheidungen der Anerkennungskommission sowie die Übernahme der Leistungen und Kosten.
( 3 ) Vereinbarungen zur Behandlung von Fällen aus anderen Kontexten werden durch die Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und die sich anschließende Organisation in geeigneter Art und Weise öffentlich gemacht.
#

§ 13
Inkrafttreten

Diese Ordnung tritt am Tag nach der Veröffentlichung im Kirchlichen Amtsblatt in Kraft. Zeitgleich tritt die Richtlinie für die Arbeitsweise der Unabhängigen Unterstützungskommission der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck für Betroffene von sexualisierter Gewalt in ihrem Bereich vom 23. August 2019 außer Kraft.